Hintergrund der Frage:
Die Politik gibt als übergeordnetes und weitreichendes verkehrspolitisches Ziel eine Steigerung der Anzahl der Fahrgäste von heute 100.000 auf 200.000 pro Tag für den ÖPNV als gemeinsames Ziel vor (Ramboll, 2022, S.75f., Die Grünen, o.J.). Diesem Ziel entsprechend wird die Stadtbahn als einziges ÖPNV-System mit genügend ‚Leistungsfähigkeit‘ und ‚Kapazitätsreserven‘ (Ramboll, S.72ff.) beschrieben. Wenn die zusätzlichen Fahrgäste aber nicht wie vorgegeben eintreffen, dann wäre die Stadtbahn komplett überdimensioniert für einen ÖPNV, der heute nur einen Überlastungsgrad von höchstens 2% aufweist (Gruenes Kiel ohne Stadtbahn, 2024). Daher ist die realistische Fahrgastschätzung von enormer Bedeutung.
Diese Fahrgäste sollen fast ausschließlich aus dem Autoverkehr in den ÖPNV verlagert werden. In Kiel soll das möglich sein, weil der Anteil der Bürger, die heute den ÖPNV nutzen, angeblich viel geringer ist als in vergleichbaren Städten mit einem hochwertigen ÖPNV.
Im Gegensatz dazu prognostiziert die eigene Grundlagenstudie 2019 zur Stadtbahn nur 5.000 zusätzliche ÖPNV Fahrgäste (Gertz et al., 2019) und die Trassenstudie nur 22.281 verlagerte Fahrgäste aus dem Autoverkehr (17.139 PKW Fahrten bei 1.3 Personen Besetzungsgrad) (Ramboll, 2022, S.95). Beide Zahlen sind vom vorgegebenen +100.000 Ziel weit entfernt.
Das politische Ziel wäre glaubhafter, wenn die Stadt Kiel Beispiele dafür zeigen könnte, dass:
- Kiel im Vergleich anderer deutscher Städte ähnlicher Größe nur einen sehr niedrigen ÖPNV-Anteil an der Gesamtzahl der in der Stadt zurückgelegten Wege hat.
- Es weltweit Städte ähnlicher Größe gibt, bei denen es aufgrund der Einführung einer Stadtbahn zu einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen gekommen wäre.
- Es weltweit Städte ähnlicher Größe gibt, bei denen es aufgrund von Verbesserungen des ÖPNV zu einer Verlagerung von Autofahrern in die vorgegebenen Dimensionen kam.
Trotz mehrfacher Nachfrage konnte die Stadt Kiel keine Beispiele vorlegen, die eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen belegen könnten. Das Gegenteil ist jedoch nachweisbar: Regensburg, Wiesbaden, Hagen, Tübingen, Erlangen und Lübeck haben die Einführung einer Stadtbahn unter anderem abgelehnt, weil die Nachfrage- und Verlagerungsziele nicht plausibel waren.
Zum Beispiel zeigen die offiziellen Zahlen in Regensburg genau das Gegenteil. Die dafür von Regensburg in Auftrag gegebene Studie zur Einführung eines „höhenwertigen ÖPNV-Systems“ sieht auch unter besten Bedingungen für die Stadtbahn nur eine Verlagerung von 1.1% des Autoverkehrs auf den gesamten ÖPNV vorher (Komobile et al, 2017, S.12). Die Stadtbahn in Regensburg wurde per Bürgerentscheid abgelehnt.
Doch wie sieht es in einer Stadt aus, in der seit Jahren eine Stadtbahn fährt? Augsburg hat 300.000 Einwohner und seit vielen Jahren eine 50Km lange und moderne Stadtbahn. Kiel hat 250.000 Einwohner und keine Stadtbahn. Nach Logik der Kieler Regierung müsste Augsburg also haben:
- Einen hohen Anteil des ÖPNV an der Gesamtzahl der in der Stadt zurückgelegten Wege. Stimmt aber nicht. 8% der Augsburger nutzen ÖPNV, im Vergleich zu 10% der Kieler.
- Einen im Vergleich zu Kiel deutlich niedrigeren Anteil an Autofahrern. Stimmt aber nicht: 59% der Augsburger benutzen Autos, im Vergleich zu nur 38% der Kieler.
- Einen Im Vergleich zu Kiel deutlich niedrigeren Anteil von Autos pro Einwohner. Stimmt aber nicht: In beiden Städten ist das Verhältnis Autos zu Einwohnern 46%.
Die Zahlen sind der Modal-Split-Untersuchung der Planersocietät, die vom Landkreis Augsburg 2019 in Auftrag gegeben wurde, bzw. den „Kieler Zahlen“ und den „Augsburger Statistiken“ entnommen.
In der Augsburger Studie werden zusätzlich die Potenziale zur Verlagerung von Autofahrern auf den ÖPNV hergeleitet: Die Befragung der Augsburger Bevölkerung ergab, dass von allen Erwerbstätigen und Auszubildenden unter 14 Jahren 8% keinen Zugang zu einem Auto haben. Diese fahren also bereits im ÖPNV oder sind mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Von den übrigen 92% mit Zugang zum Auto fahren 18% bereits täglich oder wöchentlich mit dem ÖPNV. Für 63% ist die Erreichbarkeit des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes mit Bus oder Bahn ungünstig, weil sie entweder besser mit dem Rad oder zu Fuß sind oder der Weg mit dem ÖPNV zu weit weg, zu langsam oder zu kompliziert ist. Es bleiben demnach 11% an Autofahrern übrig, die als Potenzial für den ÖPNV zur Verfügung stünden (Planersocietät, 2020, S.97). Die Logik hier ist, dass man die Gesamtbevölkerung unterteilen muss, um das echte Verlagerungspotenzial zu berechnen.
Auf Kiel übertragen hieße das: Abzüglich der unter 14-jährigen gibt es in Kiel 205.000 Einwohner. 11% davon sind 22.550 Kieler, die nach augsburger Logik als Zusatzpotenzial für den ÖPNV in Frage kämen. Auch wenn jeder dieser Kieler als Fahrgast einmal pro Tag hin und einmal am Tag zurückfährt (das zählt als 2 Fahrgäste), dann sind das nur maximal 45.100 Fahrgäste. Das bedeutet, dass auch nach augsburger Logik Kiel nie an die von der Politik gewollten 100.000 Fahrgäste herankäme.
Zusammenfassung: Die von der Kieler Politik vorgegebene Verdoppelung der Fahrgastzahlen kann nicht mit realen Beispielen belegt, jedoch anhand kieleigener Studien, existierender Beispiele und logischer Überlegungen widerlegt werden. Die Stadtbahn ist vollkommen überdimensioniert für die Verhältnisse in Kiel. Die Ratsversammlung wird gebeten, die Trassenstudie mit einer realistischen Nachfrageprognose zu hinterlegen.
Quellen:
Alkotte,M., Biemann,K., Heidi,C., Knöt, W., 2020, Aktualisierung der Modelle TREMOD/TREMOD-MM für die Emissionsberichterstattung 2020 (Berichtsperiode 1990-2018) - Berichtsteil „TREMOD“, Umweltbundesamt Texte 116/2020) https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2020-06-29_texte_116-2020_tremod_2019_0.pdf
Bundesregierung (2024) Verkehrsprognose 2040, aufgerufen am 24.10.24 https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/BVWP/verkehrsprognose-2040-band-6-1-e-verkehrsentwicklungsprognose-prognosefall-1-basisprognose-2040-ergebnisse.pdf?__blob=publicationFile
Die Grünen (ohne Jahr) Stadtbahn bring Kiel den Nachverkehr der Zukunft, Pressemitteilung der mobilitätspolitischen Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen (M.Kristen) und SPD (T. Philipp-Beeck) und Kommentare, abgerufen am 24.10.24 https://gruene-kiel.de/2024/10/02/presse-stadtbahn-bringt-kiel-den-nahverkehr-der-zukunft/
Gertz, Gutsche, Rümenapp, Büro Stadtverkehr, 2019, Mobilitätskonzept für einen nachhaltigen Öffentlichen Nah- und Regionalverkehr in Kiel, Grundlagenstudie, https://www.kiel.de/de/umwelt_verkehr/_dokumente_kiel_bewegt_sich/190809_Entwurf_Externe_Grundlagenstudie_Kiel.pdf
Grünes Kiel ohne Stadtbahn (2024), Anhang zum offenen Brief, https://www.gruekos.de/offener-brief-und-anhang
Komobile et al., 2017, Studie zur Einführung eines „höherwerrtigen ÖPNV-Systems“ in Regensburg, Kurzbericht, Ergebnis Nutzen-Kosten-Untersuchung und Systemempfehlungen, i.A. Stadt Regensburg
Planersocietät, 2020, Landkreis Augsburg, Modal-Split-Untersuchung 2019
Ramboll, 2022, Endbericht Anlage 2, Bericht Systemvervleicht Tram/BRT, Trassenstudie für ein zukunftssicheres ÖPNV-System auf eigener Trasse
Stadtamt Kiel, 2024, Kieler Zahlen 2023, Statistischer Bericht Nr. 297, https://www.kiel.de/de/kiel_zukunft/statistik_kieler_zahlen/_statistische_jahrbuecher/Statistischer_Bericht_Nr._297_-_Kieler_Zahlen_2023.pdf
Stadt Augsburg, 2023, Statistisches Jahrbuch der Stadt Augsburg 2023, https://www.augsburg.de/fileadmin/user_upload/buergerservice_rathaus/rathaus/statisiken_und_geodaten/statistiken/jahrbuch/2023Jahrbuch_Internet.pdf
Umweltbundesamt (2021) Umweltfreundlich mobil! Ein ökologischer Verkehrsartenvergleich für den Personen- und Güterverkehr in Deutschland
Unten finden Sie die offizielle Antwort der Stadt Kiel.
Die Antwort auf unsere Frage, warum eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen um 100.000 pro Tag vorgegeben wird, lautet also: Weil der Masterplan100% Klimaschutz das vorgibt.
Der Abgleich mit der in der Realität, nämlich dass die eigene Trassenstudie nur 22.000 Fahrgäste errechnet hat, dass eine Verdoppelung bisher keine Stadt weltweit erreichte und auch die Logik dem widerspricht, wird also einfach ignoriert.
Das Ignorieren der Realität ist aber bei der Stadtbahn viel gravierender als wenn z.B. ein politisches Ziel wie „jedes Jahr werden 400.000 neue Wohnungen in Deutschland gebaut“ ausgerufen wird. Uns in Kiel wird die Stadtbahn die nächsten 30 Jahre eine jährliche Schuldenlast von ca. 50 Mio. € bescheren. Da sind die Folgekosten aus dem Betrieb der Stadtbahn noch nicht einmal eingerechnet. Man könnte damit jedes Jahr ein Meeresvisulisierungszentrum bauen, oder unsere maroden Schulen renovieren, oder den Küstenschutz für die kommenden Stürme rüsten, oder jedes Jahr 250 Sozialwohnungen bauen, oder den Zivilschutz stärken.
Ist eine Stadtbahn wirklich so viel wichtiger?
Während der Ratsversammlung führte Herr Kämpfer sein erstes bekanntes Argument an: „Eine Verdoppelung des Anteils aller Verkehrswege durch den ÖPNV von 10% auf 20% ist nicht besonders ehrgeizig.“ Leider durften wir Herrn Kämpfer während der Ratsversammlung nicht richtig stellen. Wir haben daher hier dazu einen entsprechenden Beitrag veröffentlicht.
Auch war es sehr ärgerlich, dass Herr Kämpfer unsere Frage mit dem zweiten sachlich falschen Beispiel "Montpellier" beantwortet hat. Hier hat es tatsächlich keine Verdreifachung der Fahrgäste, sondern. nur eine Steigerung von 39% in 17 Jahren gegeben, und das u.a. auch nur, weil dort der ÖPNV für alle Bürger kostenlos ist und der Autoverkehr dank französischer Rechtsprechung rigoros eingeschränkt wurde. Hier können Sie die richtige Sachlage nachlesen. Auch hier war es uns nicht erlaubt, Herrn Kämpfer während der Versammlung entsprechend zu entgegnen.
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