Kurz gesagt: Nein. Nach dem Bau der Stadtbahn Montpellier kam es zu einem Wachstum der Fahrgastzahlen im dortigen ÖPNV um nur +39%.
Die Politik hat das Ziel formuliert, mit der Stadtbahn eine Verdoppelung der Fahrgäste im ÖPNV erreichen zu müssen. Wir haben mehrfach nachgefragt, ob es weltweit eine mit Kiel vergleichbare Stadt gibt, bei der es zu einer solchen Erhöhung gekommen wäre. Wenn ein praktisches Beispiel existierte, dann könnte Kiel von diesem lernen und die Zahlen womöglich sogar verbessern. Wenn nicht, warum sollte es Kiel schaffen? Was plant Kiel konkret anders, damit dieses weltweit herausragende Ergebnis erreicht wird?
Die Stabsstelle Mobilität hat auf unsere Anfrage hin ihre Gutachter losgeschickt, um Beispiele zu finden. Eine kleine Tabelle mit französischen Städten und Prozentzahlen wurde uns daraufhin gezeigt. Wir haben die Tabelle nicht zugesandt bekommen und haben nur wenige Zahlen aufschreiben können. Es waren etwa fünf französische Städte aufgeführt. Wir konnten für Lyon +45% und für Montpellier +116% aufschreiben, Nantes war ebenfalls auf der Liste.
Montpellier hatte 1999 ca. 222.000 Einwohner, und der ÖPNV der Stadt beförderte 28,8 Mio. Fahrgäste. Zwischen 2000 und 2013 wurden dann 4 Straßenbahnlinien eingeführt. 2016 wurden Fahrgastzahlen pro Linie gemessen (nur Bahn, ohne Busse):
Linie 1: 126.000 /Tag bzw. 30,5 Mio. p.a.
Linie 2: 45.000/ Tag bzw. 12,2 Mio. p.a.
Linie 3: 67.000 / Tag bzw. 17,7 Mio. p.a.
Linie 4: 30.000 / Tag bzw. 6,7 Mio. p.a.
Die Fahrgastzahlen stiegen von 28,8 Mio. in 1999 auf 83,2 Mio. in 2016 nach Einführung der Stadtbahn. „Allerdings fährt die Tram ja auch über die Stadtgrenze. Der Gemeindeverband Montpellier Méditerranée Métropole umfasst … knapp 458.000 Einwohner.“ Die Erweiterung des Einzugsgebiet ist vergleichbar mit einem Bevölkerungswachstum. Um die Wirkung der Stadtbahn auf die Erhöhung der Fahrgäste zu messen, müssen aber Effekte wie Bevölkerungswachstum herausgerechnet werden. Von 220.000 auf 458.000 Einwohner ist eine Erhöhung um 2,08. Herausgerechnet bleibt ein Wachstum von 40 Mio. Fahrgäste (83,2 / 2,08 = 40 Mio.).
Bereinigt um die Gebietserweiterung stiegen die Fahrgäste also von 28,8 in 1999 um 11,2 Mio. Fahrgäste auf 40 Mio. p.a. in 2016. Insgesamt gab es also ein Wachstum von 39% (11,2 / 28,8 = 0,39).
Das ist deutlich mehr als das einstellige Wachstum, welches in deutschen Städten wie Regensburg berechnet wurde. Wir sollten also herausfinden, ob die Vorgehensweise in Frankreich bzw. Montpellier auch auf Kiel anwendbar wäre. Hier sind die wesentlichen Merkmale, die dieses Wachstum in Montpellier ermöglicht haben:
- Kostenloser ÖPNV: Schon 2014 wurde mit stark vergünstigten Fahrpreisen versucht, die Fahrgastzahlen zu erhöhen. Vermutlich weil das kaum Wirkung zeigte, wurde mittlerweile allen 458.000 Bürgern die kostenlose Nutzung des ÖPNV ermöglicht. Das kostet Montpellier jährlich Zig-Millionen Euro. Kiel könnte eine kostenlose Nutzung ebenso einführen, müsste jedoch dann auch den Kosten-Nuten-Indikator für die Stadtbahn entsprechend anpassen.
- Neue Gesetze: Frankreich hat 2014 und 2015 neue Gesetze erlassen, um die regionalen Behörden und Metropolen zu stärken. Nun könne diese den Autoverkehr nach Belieben einschränken. Diese gesetzliche Grundlage gibt es in Deutschland nicht. In Deutschland regelt die StVO den Verkehr. Die Kieler Regierung hat also rein rechtlich weniger Verkehrsbefugnisse als in Montpellier.
- Verdrängung der Autofahrer: In Montpellier wurde der Autoverkehr auf Grundlage der Gesetze so unattraktiv wie möglich gemacht. Eingeführt wurden z.B. 100% Priorität für die Stadtbahn (Autos müssen hinter Haltestellen warten), scharfe Umweltzonen, Tempo 30 in der ganzen Stadt mit Bodenschwellen, Radarfallen, Rückbau von Straßen, Plätzen, Kreisel, Ausbau von Einbahnstraßen, Reduktion und Verteuerung von Parkplätzen, 120€ Anwohnerparken, erhöhte CO2 Gebühr für Verbrenner. Viele dieser Maßnahmen sollen auch in Kiel eingeführt werden. Der Effekt wird jedoch geringer ausfallen als in Montpellier, weil die Gesetze einschränkend wirken.
- Reisegeschwindigkeit und Distanz zwischen Haltestellen: Die Akzeptanz einer Stadtbahn hängt maßgeblich von der Reisegeschwindigkeit und den Distanzen zwischen den Haltestellen ab, wobei geringe Distanzen zu geringen Reisegeschwindigkeiten führen. In Kiel sind mindestens 400m zwischen den Haltestellen in der Innenstadt geplant, in den Außenbereichen zwischen 700m und einem Kilometer. Geschwindigkeiten von unter 20Km/h führen zu deutlichen Nachfragerückgängen, Kiel strebt eine Geschwindigkeit zwischen 20 und 23Km/h an. Vergleichbaren Daten für Montpellier finden sich in Wikipedia:
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- Linie 1 weist 15,7 Km Länge auf, für die 50 Min benötigt werden. Daraus ergeben sich 18,8 Kmh Reisegeschwindigkeit. Die Distanz zwischen Haltestellen wird mit 545m angegeben.
- Linie 2:,17,5 Km, 57 Min = 18,4 Kmh, 679 m Distanz
- Linie 3: 23 Km, 45 Min = 30,7 Kmh, 792 m Distanz
- Linie 4: 9,2 Km, 35 Min = 15,7 Km/h, 541 m Distanz
Linie 3 sticht mit den höchsten Geschwindigkeiten und den längsten Abständen deutlich heraus. Die anderen Linien haben aber immer noch längere Abstände als die 400m, die für die Kieler Innenstadt geplant sind. Es ist daher kaum vorstellbar, wie die Kieler Stadtbahn schneller sein kann als die in Montpellier. Also werden auch weniger Fahrgäste als in Montpellier in die Kieler Stadtbahn steigen.
- Weiteres: Maßnahmen, die in Montpellier Autofahrer konstruktiv und positiv zum Umsteigen motivieren, sind auch in Kiel vorgesehen (z.B. wie Car sharing, park & ride, Mobilitätsstationen, elektronische Anzeigetafeln, mehr Ladesäulen für eAutos, Mikromobilität). Hier ist also auch kein Zusatzeffekt für Kiel zu erwarten.
Zusammengefasst:
Nach dem Bau der Stadtbahn Montpellier kam es zu einem Wachstum der Fahrgastzahlen im dortigen ÖPNV um nur +39%. Trotz komplett kostenlosem ÖPNV für die dortigen Bürger, massiven Einschränkungen des Autoverkehrs, und wohl auch attraktivere Reisezeiten und Haltestellenabstände, wurde nicht einmal die Hälfte des Kieler Ziels von 100% erreicht. Dieses bleibt ein politisch-ideologischer Wunschtraum.
Quellen:
Die Grünen (ohne Jahr) Stadtbahn bring Kiel den Nachverkehr der Zukunft, Pressemitteilung der mobilitätspolitischen Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen (M.Kristen) und SPD (T. Philipp-Beeck) und Kommentare, abgerufen am 24.10.24 https://gruene-kiel.de/2024/10/02/presse-stadtbahn-bringt-kiel-den-nahverkehr-der-zukunft/
Die Verkehrswende in Frankreich, o.J. https://meinfrankreich.com/verkehrswende-in-frankreich/, abgerufen am 16.11.24
Gertz, Gutsche, Rümenapp, Büro Stadtverkehr, 2019, Mobilitätskonzept für einen nachhaltigen Öffentlichen Nah- und Regionalverkehr in Kiel, Grundlagenstudie
Guihéry L., Jaras, J. 2023, Mobilitäts- und Verkehrspolitik in Deutschland und Frankreich: Zeit für Veränderungen und … gemeinsame Lösungen? https://www.arl-net.de/system/files/media-shop/pdf/2023-08/07_guihery_jarass.pdf,
Naumann, T. 2019, Mobilität als Gesamtkunstwerk: Montpellier und seine Stadtbahn, Stadtverkehr, 6/2019 (6. Jahrgang)
Montpellier Méditerranée Metropole 2016, Rapport D’Activités.
Montpellier, o.J., Macrotrends, https://www.macrotrends.net/global-metrics/cities/20978/montpellier/population, aufgerufen 16.11.24
Ramboll, 2022, Endbericht Anlage 2, Bericht Systemvergleich Tram/BRT, Trassenstudie für ein zukunftssicheres ÖPNV-System auf eigener Trasse
SPD, 2023, SPD Kiel: Unser Kommunalwahlprogramm 2023-2028
Umverkehr, o.J., https://www.umverkehr.ch/node/1084#:~:text=Das%20erklärte%20Ziel%20der%20kostenlosen,Ride%2DAnlagen%20immer%20klar%20gekennzeichnet, aufgerufen am 16.11.24
Wikipedia 1, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_1_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 2, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_2_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 3, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_3_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 4, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_4_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
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