Kassel wird häufig als Vorbild für Kiel genannt, wenn es um den ÖPNV und die Modal-Split-Ziele geht (z.B. Oberbürgermeister Kiel, Ratsversammlung 11.24). Die Straßenbahn in Kassel fährt laut Wikipedia seit 1877 und umfasst heute sieben Linien. Dazu kommen drei Linien der RegioTram Kassel und ein ausgebautes Busnetz mit Regional- und Stadtbuslinien. Alle bedienen sowohl das Stadtzentrum Kassels als auch die Nachbargemeinden und -städte in der Großregion Kassel (Nordhessischer Verkehrsverbund). Nur durch diese Verlängerung der Straßenbahn- bzw Stadtbahn ins Umland kam es zu einer Fahrgasterhöhing von 66%, (Deiters, J. 2009, Bus oder Bahn? S.9f.). Nach den neuesten verfügbaren Zahlen ist in Kassel der ÖPNV-Anteil zwischen 2015 und 2020 im Modal Split jedoch um 4% gesunken und der MIV (Motorisierter Individualverkehr, also die privaten Autofahrer) Anteil im gleichen Maß gestiegen (Kassel, 2015, S.39, Agora Verkehrswende, 2020, S. 62, Ramboll, 2022, S.6).

Die Stadtbahn in Kiel wird bei kompletter Fertigstellung 4 Linien umfassen und vor allem innerhalb der Kieler Stadtgrenzen verkehren. Die politisch vorgegebene Verdopplung der Fahrgastzahlen (also +100%) in Kiel wird sich also größtenteils aus der Innenstadt ergeben müssen. Normalerweise rechnet man mit einer 20-30% Erhöhung für den Innerstädtischen Verkehr (Deiters, J. 2009, Bus oder Bahn? S.9f.). Für Kiel laut Trassenstudie 32% prognostiziert worden, also weit entfernt von der politischen Vorgabe von 100%. Der MIV-Anteil in Kiel ist heute schon dagegen 4% geringer als in Kassel, und es zeigt sich der Kernunterschied zu Kassel: Kiel ist eine Stadt der Fußgänger und Radfahrer. Wenn also schon 62% der Verkehrswege im ÖPNV, zu Fuß oder per Rad zurückgelegt werden, bleiben nur die 38% Autofahrer als sinnvolles Verlagerungsziel für die Stadtbahn übrig. Warum sollte Kiel einen MIV-Anteil von weniger als 38% schaffen, wenn Kassel mit fast 150 Jahren, 10 Schienen-Linien, Bussen und einer Reichweite weit über die Stadtgrenzen hinaus nur einen Anteil von 43% erreicht?
Nach Aussage der Befürworter müssten die Kasseler entlang der Trassen geradezu eine Explosion an lebenswertem Raum und blühendem Einzelhandel genießen können. Oder wie der Kieler Oberbürgermeister Dr. Kämpfer es ausdrückt: „ein Booster für die Stadtentwicklung: Die Erfahrungen anderer Städte zeigen, dass die Quartiere um eine Stadtbahnlinie herum einen echten Schub bekommen, Investitionen auslösen und die Lebensqualität insgesamt steigern“ (SPD, 2023, S.5, siehe auch Groneck, S., 2016, S.42). Die Fußgängerzone von Kassel steht aber mit vielen Leerständen und trostlosen Fußgängerzonen der Holstenstraße in Kiel in nichts nach. Aussagen wie „Leere Schaufenster, verriegelte Türen – so sieht es gerade gleich an mehreren Stellen in der Kasseler City aus. Ist die Innenstadt also dabei, auszusterben?" (Radio FFH, 2024) prägen die Kasseler Nachrichten. Warum sollte dieses Schicksal z.B. der Holtenauer Straße nach einer fast 20-jährigen Bauzeit der Stadtbahn erspart bleiben?
Auch zukünftig wird sich die Lage in Kassel eher verschlechtern: Der Verkehrsentwicklungsplan Kassel prognostiziert aufgrund der demographischen Entwicklung einen flächendeckenden Rückgang der ÖPNV-Fahrgastzahlen sowohl in der Stadt als auch in der Region Kassel (Kassel, 2015, S.46). Wer nun glaubt, dass deswegen der ÖPNV in Kassel der Nachfrage entsprechend angepasst werden müsste, der irrt. Die Gutachter in Kassel - übrigens dieselben, die für die Stadtbahn-Grundlagenstudie 2019 in Kiel verantwortlich sind - empfehlen sogar den Ausbau des ÖPNV in Kassel. Unter anderem sollen Tramlinien verlängert und das Bus-Angebot ausgebaut werden. Der ÖPNV-Anteil soll nämlich unbedingt um ganze 2% gesteigert werden) (Kassel, 2015, S.91). Für die Autofahrer wird dagegen vorgegeben: „Bis 2030 wird ein MIV-Anteil von 31-38 % als Zielwert angestrebt, der durchaus erreichbar ist“ (Kassel, 2015, S.105)(hier hat wohl eher Kiel mit einem heutigen MIV-Anteil von 38% die Vorbildfunktion).
Dabei ist fraglich, ob Kassel sich einen weiteren Ausbau bei heute schon abnehmendem ÖPNV-Anteil überhaupt leisten kann. 2013 beförderte die KVG Kassel 44,8 Mio. Fahrgäste bei einem Umsatz von 45,5 Mio.€ und dabei ein Defizit von 16,8 Mio.€ (Hessisch Niedersächsische Allgemeine, 2014). Wie würde das Defizit in Kiel bei heute nur 30 Mio. Fahrgästen aussehen (KVAG, o.J.)?
Zusammengefasst:
Trotz 150 Jahren Erfahrung im innerstädtischen Schienen-ÖPNV, 10 Linien und einem ausgebauten Bussystem, ist die Innenstadt Kassels von Leerständen und trostlosen Fußgängerzonen geprägt. Der ÖPNV-Anteil in Kassel ist in den letzten Jahren gesunken und der MIV-Anteil in gleichem Maße gestiegen. Die Fahrgastzahlen sollen bis 2030 weiter abnehmen. Zudem ist der ÖPNV in Kassel hochgradig defizitär. Als Kieler kann man nur hoffen, nicht wie Kassel zu enden (nichts gegen die Kasseler Mitbürger, die leiden doch auch nur unter ihren Politikern).
Quellen:
Agora Verkehrswende, 2020, Städte in Bewegung. Zahlen, Daten, Fakten zur Mobilität in 35 deutschen Städten
Groneck, C., 2016, Die moderne französische Straßenbahn, Impulse für ÖPNV und Stadtentwicklung in Europa, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4.2016
Hessisch Niedersächsische Allgemeine, 2014, https://www.hna.de/kassel/kvg-rekordkurs-mehr-fahrgaeste-aber-steigender-verlust-3744690.html, zuletzt aufgerufen am 31.12.24
Kassel, 2015, Verkehrsentwicklungsplan Stadt Kassel 2030, Abschlussbericht
KVAG Kiel, o.J., https://www.kvg-kiel.de/fuer-interessierte/zahlen-daten-fakten, zuletzt aufgerufen am 31.12.24
Radio FFH, 2024 https://www.ffh.de/nachrichten/hessen/nordhessen/406703-trotz-vieler-leerstaende-hoffnung-fuer-die-kasseler-innenstadt.html, zuletzt aufgerufen am 31.12.24
Ramboll, 2022, Endbericht: Trassenstudie für ein zukunftssicheres ÖPNV-System auf eigener Trasse (Haushaltsbefragung 2018)
SPD, 2023, Westwind, Magazin für Stadtteil und Hochschule, 40. Jahrgang, Interview mit Ulf Kämpfer: „Wir können weltweit eine Vorbildfunktion einnehmen“
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