Hintergrund der Frage:
Die Reisegeschwindigkeit einer Stadtbahn hängt vor allen anderen Einflussfaktoren wie Verkehrsbehinderungen, besonders stark von den Distanzen zwischen deren Haltestellen ab und „ist ein sehr wichtiger Faktor, um Fahrgäste vom PKW zu gewinnen“ (Ramboll, ö.J., S.21).
Geringe Haltestellenabstände führen zu geringen Geschwindigkeiten, weil die Stadtbahn auf kurzen Strecken nicht in Fahrt kommt, bevor sie wieder abbremsen muss. Sinken diese unter 20 km/h, gehen nicht nur die Fahrgastzahlen deutlich zurück, sondern Fahrzeug- und Personalbedarf steigen (Ramboll, o.J., Tab.4). Die Reisegeschwindigkeit spielt daher bei der Ermittlung des gesamtwirtschaftlichen Nutzens der Stadtbahn eine extrem wichtige Rolle und geht als Rechengröße gleich in zwei der mindestens vier Indikatoren ein, die zur Berechnung des Nutzens erforderlich sind, nämlich (Ramboll, 10.2022, S.51):
- In die gewonnene Zeit der Fahrgäste, die bisher im PKW, zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs waren und jetzt schneller mit der Bahn ans Ziel kommen. Dafür setzt die Trassenstudie 11,49 Mio.€ an zusätzlichem Nutzen an.
- In die Kostenersparnisse der umgestiegenen PKW-Fahrer, weil die Stadtbahn billiger ist als ihr Auto, und schliesslich die Fahrgelderlöse der Stadtbahn durch die umgestiegenen Fußgänger und Radfahrer. Für beides setzt die Stadtbahn 6,84 Mio.€ an.
Nur indirekt von der Reisegeschwindigkeit beeinflusst sind der Saldo der Abgasemissionen und der Saldo der Unfallfolgen. Beiden wurde ein gesamtwirtschaftlicher Nutzen von 3,99 Mio.€ zugewiesen. Der gesamtwirtschaftliche Nutzen der Stadtbahn summiert sich auf 22,32 Mio.€ p.a. (11,49 + 6,84 + 3,99).
Zurück zu den Reisegeschwindigkeiten:
Obwohl die Berechnungen der Gutachter eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 19,6 km/h ergaben (Ramboll, 2022, S.31) legt Kiel anhand eines theoretischen Rechenmodells die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der Stadtbahn als mit einem Zielwert von 21,5 km/h fest (Ramboll, o.J., S22).
Interessant ist jedoch eine vergleichende Berechnung anhand der geplanten Haltestellenabstände. Diese ergeben sich aus den öffentlich angegebenen Längen jeder Linie in km und der jeweiligen Anzahl an Haltestellen:
• Linie 1: 15,7 km, 31 Haltestellen = 506 m Haltestellenabstand
• Linie 2: 13,2 km, 29 Haltestellen = 455 m Haltestellenabstand
• Linie 3: 15,6 km, 26 Haltestellen = 600 m Haltestellenabstand
• Linie 4: 9,5 km, 21 Haltestellen = 452 m Haltestellenabstand
• Gesamt: 54 km, 107 Haltestellen = 505 m Haltestellenabstand
Unser Kieler Oberbürgermeister hat die modernen Stadtbahnen in Straßburg und Montpellier als praktische Vorbilder für Kiel hervorgehoben (Dr. Kämpfer, Aussage Ratsversammlung vom 21.11.24). Beide sind aufgrund spezieller französischer Gesetze mit der „Verbannung des gesamten Durchgangsverkehrs aus der Innenstadt“ mit Kiel kaum vergleichbar, weil „es derartige gesetzliche Instrumente zur Eindämmung des Autoverkehrs in den (deutschen, Anm. d. Verf.) Städten bislang nicht gibt“ (Groneck, C, 2016, S.428). Dennoch wurde hier die Stadtbahn Montpellier exemplarisch ausgewählt, um aus Streckenlängen, reellen Reisezeiten und Haltestellenabständen deren aktuelle Reisegeschwindigkeiten abzuleiten und mit den Berechnungen bzw. Zielen in Kiel zu vergleichen:
Vergleichsdaten der Stadtbahn Montpellier (Wikipedia 1, 2, 3, 4, jeweils o.J):
- Linie A: 15,7 km, 30 Haltestellen, 50 Min. = 523 m Haltestellenabstand bei 18,8 km/h
- Linie B: 17,5 km, 28 Haltestellen, 57 Min. = 625 m Haltestellenabstand bei 8,4 km/h
- Linie C: 23 km, 27 Haltestellen, 45 Min. = 851 m Haltestellenabstand bei 30,7 km/h
- Linie D: 9,2 km, 19 Haltestellen, 35 Min. = 484 m Haltestellenabstand bei 15,7 km/h
- Gesamt: 65,4 km, 104 Haltestellen, 187 Min. = 629m Haltestellenabstand bei 21km/h
Die Linienlänge und Anzahl der Haltestellen sind vergleichbar mit Kiel. Allerdings sind die Haltestellen der Linie C, die weit aus der Stadt Montpellier herausfährt, ganze 42% weiter voneinander entfernt als z.B. bei der Linie 3 in Kiel mit den längsten Abständen von 600m. Ohne die Montpellier-Linie C sind die Haltestellenabstände durchschnittlich zwar immer noch 9% länger als in Kiel, aber schon besser vergleichbar, daher:
- Gesamt (ohne Linie C): 42,4 km, 77 Haltestellen, 142 Min. = 550m Haltestellenabstand bei 17,9 km/h (20% langsamer als Kiel, wo 21,5 km/h theoretisch errechnet wurden)
Im Unterschied zur fast autofreien Innenstadt Montpelliers wird die Stadtbahn Kiel zu 30% im Mischbetrieb fahren (Bendig, M., 2024, S.29). Daher ist in Kiel trotz Vorfahrt der Stadtbahn eher mit den oben erwähnten Verkehrsbehinderungen zu rechnen (Hummelwiese, Bahnhof, Olshausenstraße, Ziegelteich, Wellingdorf, etc.). Wenn in Kiel also …
1. die Abstände zwischen den Haltestellen 9% kürzer sind als in Montpellier,
2. mit Verzögerungen insbesondere bei Mischbetrieb zu rechnen ist,
dann wird die Kieler Stadtbahn in der Praxis auch allerhöchstens 17,9 km/h schnell fahren, wie die vorbildliche und moderne Stadtbahn Montpellier. Das entspricht auch den Erfahrungen des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV): „Häufig sind die mittleren Beförderungsgeschwindigkeiten bei innerstädtischen Straßenbahnen und Bussen mit unter 20 km/h sehr niedrig und sinken weiter“(VDV, 2021, S.5). Eine Reduktion der Geschwindigkeit um 20% müsste dann mindestens auch eine entsprechende Reduktion der Fahrgäste und des durch diese verursachten monetären Nutzens um 20% bzw. 3,666 Mio.€ (18,33 Mio.€ x 0,2) nach sich ziehen.
Beim vorschriftsmäßigen Ansatz einer 30% Kostensteigerung, errechnet sich 0,87 als NKI-Wert:
- (Nutzen - ÖPNV Betrieb) - reduzierter Nutzen (Tsd. € p.a.): 17.327 - 3.666 = 13.661
- Kapitalkosten Infrastruktur: (Tsd. € p.a.): 15.760,44
- NKI-Wert: 0,87
Die realistische Reduktion der Reisegeschwindigkeit der Kieler Stadtbahn um nur 3,5 km/h lässt also die Nutzen-Kosten-Relation der gesamten Stadtbahn bei Anwendung der vorgeschriebenen Sensitivitätsberechnung mit einer 30%-Kostensteigerung unter den Wert 1 sinken.
Die Kosten dürften sich allerdings nach neuesten Schätzungen um mindestens 100% erhöhen, angesichts noch nicht berücksichtigter Kosten für Inflation seit 2016, Folgekosten, CO2 Ausstoß beim Trassenbau, Verlegung unterirdischer Leitungen, Grunderwerb und höherem Fahrzeug- und Personalbedarf. So befürchtet Sebastian Heilmann, Projektkoordinator der Stadtbahn im Tiefbauamt der Landeshauptstadt Kiel alleine für die unterirdischen Leitungsverlegungen „Kanalverlegungskosten von 600 Mio. Euro und zehn Jahre zusätzliche Bauzeit bei der Kieler Stadtbahn“(Bendig, M. 2024, S.39). Die gesamtwirtschaftlichen Kosten für den CO2-Ausstoß bei der Trassenverlegung berechnet die Bürgerinitiative Grünes Kiel ohne Stadtbahn auf Basis einer Analyse des BUND mit 305 Mio.€ noch dazu.
Dazu kommt noch die Reduktion des Gesamtnutzens aufgrund des Wegfalls des Klimavorteils der Stadtbahn gegenüber den eBussen und eAutos.
Zusammenfassung und Aufforderung an die Kieler Ratsversammlung:
Da die Reisegeschwindigkeit der Kieler Stadtbahn beim Vergleich mit dem Vorbild in Montpellier maximal 17,9 km/h sein kann, sinkt bei einer so gut wie sicheren Kostensteigerungen von mindestens 30% deren NKI-Wert deutlich unter 1, auf nur 0,87.
Bei einem NKI-Wert unter 1 ist die Stadtbahn gesamtwirtschaftlich weder sinnvoll noch förderwürdig. Wenn keine praktische Beispiele vorgelegt werden können, die die theoretischen 21,5 km/h der Kieler Stadtbahn nachprüfbar in der Praxis bestätigen, dann sollte die Ratsversammlung das Projekt Stadtbahn sofort stoppen und stattdessen die in AP E-123.2 von den Gutachtern ausgearbeitete Bus-Lösung für nur 45 Mio.€ umsetzen, da diese nach eigener Aussage dieselben Ziele erfüllt wie die Stadtbahn.
Quellen:
Bendix, M, 2024, Neue Straßenbahnen in großen Mittelstädten – ein Beitrag zur nachhaltigen Verkehrsentwicklung? Eine Untersuchung am Fallbeispiel Lüneburg
Groneck, C., 2016, Die moderne französische Straßenbahn, Impulse für ÖPNV und Stadtentwicklung in Europa, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4.2016
Ramboll, 0.J. Verkehrsanlagen LPH 1 Grundlagenermittlung, AP I-110.1-3, Bericht VP2
Ramboll, 10.2022, Dokumentation AP F-110 Nutzen-Kosten-Untersuchung Trassenstudie für ein zukunftssicheres ÖPNV-System auf eigener Trasse, https://www.kiel.de/de/umwelt_verkehr/_dokumente_kiel_bewegt_sich/dokumentation/kiel_oepnv_system_dokumentation_F-110_nutzen_kosten_untersuchung.pdf
Ramboll, 2022, Endbericht Anlage 2, Bericht Systemvergleich Tram/BRT, Trassenstudie für ein zukunftssicheres ÖPNV-System auf eigener Trasse
VDV, 2021, Stellungnahme 17/4486 des VDV NRW „Mehr Verkehrssicherheit, bessere Luft und weniger Lärm - Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften“ Anhörung von Sachverständigen durch den Verkehrsausschuss zu Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,Drucksache 17/14046
Wikipedia 1, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_1_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 2, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_2_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 3, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_3_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Wikipedia 4, o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Ligne_4_du_tramway_de_Montpellier, abgerufen am 16.11.24
Hier ist die Antwort der Stadt Kiel:
Sehr geehrter Herr Dr. Bochert,
vielen Dank für Ihre E-Mail. Ihre Einschätzung, dass die Stadtbahn nicht förderfähig ist, kann fachlich nicht nachvollzogen werden. Derzeit wird vom Büro PTV der NKI errechnet, der die Grundlage für die Förderfähigkeit eines Projektes ist. Diese Berechnung erfolgt unter Einbindung des Landes Schleswig-Holsteins sowie unter der Beteiligung des Bundes. Wenn das Ergebnis vorliegt, werden wir es auf unserer Homepage veröffentlichen, wie es bisher auch bei allen anderen Unterlagen gemacht wurde.
Die Berechnung der Durchschnittsgeschwindigkeit wird spezifisch für Kiel auf Basis der jeweils aktuellsten Planung von einem Fachbüro mit einem dynamischen Betriebsmodell errechnet. Hier werden die fachlich anerkannten Standards und Berechnungsgrundlagen genutzt, um eine fundierte Grundlage für die Bewertung zu erreichen. Auch die Kostenschätzung erfolgt auf Basis der aktuellen Planung und unter Berücksichtigung der geltenden Standards. Es sind weder eine deutliche Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit noch eine Verdoppelung der Kosten nach fachlicher Bewertung absehbar.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine klarstellende Bemerkung: Anders als von Ihnen geschrieben, habe ich die Stadtbahnen in Montpellier und Straßburg nicht pauschal als Vorbilder für Kiel genannt, sondern lediglich als Beispiele für Stadtbahnprojekte, die wie geplant zu einer erheblichen Steigerung der ÖPNV-Nutzerzahlen geführt haben.
Mit freundlichen Grüßen
Ulf Kämpfer
Hier ist die Rückantwort von GrueKoS an Herrn Dr. Kämpfer:
Sehr Geehrter Herr Dr. Kämpfer,
Danke für ihre Antwort. Am 21.11.24 sagten Sie in der Ratsversammlung, man könne gerne über Zahlen diskutieren und streiten, die Ratsversammlung sei dafür allerdings wohl nicht geeignet. Insofern freut es mich, dass wir auf diesem Weg ins Gespräch kommen.
Laut Stabsstelle Mobilität hätte die Wirtschaftlichkeitsrechnung Ende 2024 fachlich erfolgt sein müssen. Darin haben bereits kleinste Abweichungen in den Zahlen wie Zinssatz, CO2-Preis oder eben Durchschnittsgeschwindigkeiten, große Auswirkungen auf den NKI. Z.B. sinkt laut Trassenstudie die Fahrgastnachfrage deutlich, wenn statt der geplanten 20-23 km/h weniger als 20 km/h erreicht werden, und es steigen dementsprechend die Kosten für Personal und Fahrzeuge. Ihre Gutachter berechneten fachlich 19,6 km/h.
Sie nannten Montpellier als einzige Stadt weltweit, bei der es zu einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen nach Einführung der Stadtbahn gekommen sei. Das könne auch Kiel erreichen (Montpellier also als Vorbild). In der dazu von Ihnen wohl herangezogenen Quelle Groneck, C. (2016), sind die Zahlen jedoch nicht bereinigt worden. Gemäß französischer Originalquelle kommt das Hauptwachstum durch die Vergrößerung des Einzugsgebiets der Bahn zustande, von Montpelier Stadt mit 220.000 Einwohnern in 1999 in die Metropolregion mit 458.000 Einwohnern in 2010. Das fachlich bereinigte Wachstum ist 39%. Dabei ist deren Innenstadt fast autofrei und der ÖPNV gratis für die dortige Bevölkerung. Deren Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt nur 17,9 km/h. Aus welchem Grund sollte die kostenpflichtige Kieler Stadtbahn im Mischverkehr und mit kürzeren Haltestellenabständen schneller fahren?
Für Kiel prognostizieren die Gutachter fachlich nur 32% zusätzliche Fahrgäste, davon ca. ein Drittel induziert. Wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit in Kiel realistisch auf maximal 17,9 km/h sinkt, dann sinkt die Nachfrage noch weiter. Laut Trassenstudie würde ein Busnetz ohne HÜV fachlich gerechnet bis zu 68% zusätzliche Fahrgäste aufnehmen Es stellen sich die Fragen:
- Gibt es keine Plausibilitätsprüfung anhand praktischer Beispiele, z.B. bei der Reisegeschwindigkeit?
- Warum wird trotz Trassenstudie immer noch von einer Verdoppelung der Nachfrage gesprochen?
- Warum wird nicht vehement der Vorschlag der Gutachter für ein Busnetz für 45 Mio.€ verfolgt?
- Warum werden die Wirtschaftlichkeitsrechnungen im jetzigen Zustand nicht veröffentlicht?
Mit Freundlichen Grüßen
Alexander Bochert
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Zur Reisegeschwindigkeit:
Die praktische Reisegeschwindigkeit für den Nutzer vermindert sich auch durch die durchschnittliche Wartezeit an der Starthaltestelle. Bei der Stadtbahn soll es eine Taktung von 10 Minuten geben. Somit im Schnitt 5 Minuten Wartezeit. Bei kleineren Einheiten würde die Taktung kürzer sein und entsprechend auch die Wartezeit. Für kurze und mittlere Distanzen hat die Taktung einen erheblichen Einfluss auf die tatsächliche Reisegeschwindigkeit.